Ausgewählte Methoden der wissenschaftlichen Dialogologie

Eine satirische Betrachtung zur Fastnacht*

Von Dr. Josef Liebertz, Bonn+

+ Prof. Dr. Josef Liebertz, Köln
(1929-06-02 – 2017-01-09)

* Vortrag, gehalten 1964-02-11 (Fastnachtsdienstag)
im Laboratorium Aachen der Philips Zentrallaboratorium GmbH

Quelle: Phys. Blätter 21, S. 70-76, (1965)

(geändert: )

Die zahlreichen Kongresse, Tagungen und Kolloquien, die heute zum Zwecke des wissenschaftlichen Gedankenaustauschs, der Pflege des persönlichen Kontaktes, der Befriedigung der Reiselust und der Verminderung der defizitären Lage der Verkehrsunternehmen veranstaltet werden, lassen sich nur dann mit Gewinn und Nutzen besuchen, wenn man sich am wissenschaftlichen Gespräch aktiv beteiligt.

Hochgestellte Persönlichkeiten sind es einfach ihrem Renommee schuldig, einen Diskussionsbeitrag zu liefern. Juniorforschern bietet sich die einzigartige Chance, durch geschicktes Eingreifen in die Debatte von sich reden zu machen und so die Karriere zu fördern. Firmendelegierte haben häufig das Bedürfnis, durch geistreiche Diskussionsbemerkungen dezente Schleichwerbung zu betreiben, um auf diese Weise vor sich selbst und vor der Geschäftsleitung die Reisespesen zu rechtfertigen. Ein weiteres, nicht zu vernachlässigendes Anliegen von Diskussionen besteht darin, persönliche Animositäten gegen den Vortragenden abzureagieren. Dabei bemüht man sich, der ursprünglichen Bedeutung von discutere gerecht zu werden, nämlich den geschätzten Redner zu beuteln oder, um es in der Vulgärphraseologie auszudrücken, ihn fertigzumachen bzw. ihn abzuschießen.

Die vorliegende Studie der wissenschaftlichen Dialogologie, die die wichtigsten Diskussionsmethoden an Hand von praktischen Beispielen darbietet, will einerseits erfahrene Diskussionsredner zur Verfeinerung ihrer Technik anregen und andererseits jüngeren Leuten ihre Scheu vor Debatten überwinden helfen. Sie will ferner abgehetzte Manager in die Lage versetzen, auch dann bei Diskussionen ihren Mann zu stehen, wenn sie die Zeit des Vortrags zu einem erquickenden Schläfchen benutzt haben.


Methode der modifizierten Randbedingungen

In einem Vortrag über ein experimentelles Arbeitsgebiet seien die Versuchsparameter eingehend erörtert worden. So wurde etwa gesagt, daß der Druck 10 Atm und die Temperatur 80 °C betrug. In der Aussprache wird man dann, die Bedingungen mehr oder weniger stark modifizierend, fragen: „Haben Sie auch bei 20 Atm gearbeitet?“ oder: „Lohnt es sich, auf wesentlich höhere Drücke überzugehen, und was ist dann zu erwarten?“ Ähnliche Fragen lassen sich ohne Schwierigkeiten auch für die Temperatur und alle übrigen Parameter formulieren. Was die Temperatur angeht, sollte man die naturgesetzliche untere Grenze beachten und sich nicht im Überschwang der Kühnheit zu der Frage hinreißen lassen: „Warum haben Sie Ihre Versuche nicht auch bei −300 °C durchgeführt?“ Im allgemeinen empfiehlt es sich jedoch, extremale Bedingungen zu eruieren bzw. vorzuschlagen. Es sind vor allem solche Bedingungen zu postulieren, von denen man nach Anhören des Vortrages weiß, daß sie dem Referenten experimentell nicht zugänglich waren und auch in Zukunft nicht zugänglich sein werden.

Nach der Methode der modifizierten Randbedingungen wird also der Vortragende rasch in seine Schranken verwiesen, was hybride Ansätze jüngerer Kollegen schon im Keime zu ersticken gestattet, während der Fragesteller selbst vor dem Zuhörerkreis als versierter und vorausschauender Experte erscheint, der nicht nur das Problem völlig beherrscht, sondern auch die zukünftigen Perspektiven aufzeigt.

Die Methode der modifizierten Randbedingungen stellt nur geringe Anforderungen an Intelligenz, Wissen und Erfahrung, so daß sich sogar Anfänger ihrer gefahrlos bedienen können. Eine Blamage ist nahezu ausgeschlossen. Selbst bei der ungünstigsten Konstellation – der Vortragende ist eine anerkannte Kapazität, der Diskussionsredner noch reichlich jung und die Bemerkung etwas abwegig – läßt sich doch eine vorteilhafte Wirkung erzielen. Ohne unwirsch zu werden, wird der Referent auf die Fragen eingehen und mit dem Publikum den Eindruck gewinnen: Ein aufgeweckter junger Mann, den man im Auge behalten und fördern sollte.


Skeptizistische Methode

Die skeptizistische Methode, bei der der Zweifel zum Prinzip erhoben wird, ist dem wissenschaftlichen Nachwuchs kaum anzuraten, da die Skepsis ein Vorrecht des reiferen Alters ist.

Vor einem chemisch orientierten Gremium wird bevorzugt die Frage gestellt: „War die verwendete Substanz wirklich rein?“ Da diese Frage naturgemäß nie uneingeschränkt bejaht werden kann, ist die Glaubwürdigkeit des Referenten stark angeschlagen. Bei Seminarbesprechungen wird der Professor den Studiosus häufig anschließend mit den markigen Sätzen attackieren: „Wenn Sie so unsauber arbeiten, dann ist mir natürlich alles klar! Das kann ja nie etwas werden!“

Auf dem physikalischen Sektor lauten die Formulierungen gewöhnlich: „Gelten die abgeleiteten Beziehungen wirklich im strengen Sinne?“, „Meinen Sie nicht, man hätte relativistisch rechnen müssen?“ oder „Glauben Sie, das Problem ohne Quantenmechanik lösen zu können?“ Mit solchen, bewußt allgemein gehaltenen Fragen vergibt man sich nichts, demütigt den Referenten, der in der Regel um eine gute Antwort verlegen ist, und erscheint selbst im besten Licht.

Die Generalisierung der skeptizistischen Methode gipfelt in der Bemerkung: „Von den Ausführungen des Redners habe ich nichts verstanden!“ Diese Worte aus dem Munde eines Mannes von Rang und Namen bedeuten den geistigen Exitus des Vortragenden; denn sie wollen keineswegs als Eingeständnis altersbedingter Schwerhörigkeit aufgefaßt werden, sondern in euphemistischer Umschreibung zum Ausdruck bringen, daß der Vortrag eine seltene Akkumulation von Unsinn war. Würde dagegen ein Student naiven Gemüts die gleiche Bemerkung wagen, würde er ohne Zweifel als Ignorant erscheinen und sich der Lächerlichkeit preisgeben.

Die skeptizistische Methode ist also sehr delikater Natur. Ihr subjektiver Zuschnitt beschränkt die Anwendbarkeit auf gereifte Persönlichkeiten, die allerdings gute Erfolge damit verbuchen können.


Methode der Autapotheose

Die Methode der Autapotheose oder Selbstbeweihräucherung trägt dem auch bei Wissenschaftlern weit verbreiteten Geltungsbedürfnis Rechnung und kommt dann zur Anwendung, wenn der Weihrauch von anderer Seite unverdient ausgeblieben ist.

Die hohe Schule der Autapotheose macht zur Auflage, das Angeben nicht zu übertreiben und nie zu dick aufzutragen. In subtiler Filigrantechnik wird der perfektionierte Autapotheotiker daher den Hinweis auf sich selbst stets in einen Nebensatz kleiden. Da dieser aber die Hauptsache enthält, soll nur hierauf eingegangen werden.

Soll der familiäre Kontakt mit wissenschaftlichen Koryphäen die eigene Stellung verdeutlichen, empfehlen sich Wendungen wie: „Als ich die gleiche Frage vorige Woche mit meinem lieben Kollegen Heisenberg ventilierte …“, oder noch besser: „Wie mir kürzlich mein Freund Linus, dem gerade der zweite Nobelpreis verliehen wurde, versicherte, …“ Wem so feiner Umgang nicht vergönnt ist, muß auf die zweite oder dritte Garnitur zurückgreifen.

Er kann sich aber auch als weitgereister Mann ausgeben und in seine Diskussionsbemerkung einflechten: „Wie ich schon auf dem Kongreß in Ottawa erklärte, …“ Dabei erfreut sich die Erwähnung häufiger Besuche der westlichen Hemisphäre, vor allem Amerikas, besonderer Beliebtheit. Exkursionen in die Sowjetunion lasse man aus politischen Gründen besser aus dem Spiel. Reisen innerhalb Europas sind nur noch bei den niedrigen Ständen und Snobisten en vogue. Regelmäßige Fahrten nach Paris verschweige man aus moralischen Erwägungen.

Neben der soziologischen und der von Managern gern verfolgten kosmopolitischen Form der Autapotheose existiert noch eine weitere Variante, die historische. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß Reminiszenzen aus vergangenen Zeiten aufgefrischt werden. Es wird darauf verwiesen, daß man aus einem berühmten Institut oder einer renommierten Firma hervorgegangen ist. Daneben werden frühere, schon in Vergessenheit geratene Verdienste und Leistungen aufgezählt. Zur Illustrierung diene die folgende Passage: „Seinerzeit in Göttingen – Sie wissen, ich entstamme der Göttinger Schule – standen wir vor den gleichen Aufgaben, und ich muß sagen, ich habe sie, gemeinsam mit Wintersacher, dem Nestor dieses Zweiges der Physik, einfach glänzend gelöst. Sie sollten mal meine grundlegenden Arbeiten aus den dreißiger Jahren lesen!“ Ob jemand Anhänger der Autapotheose historischer Spielart ist, läßt sich auch an seinen Veröffentlichungen erkennen, nämlich an der Anzahl der im Literaturverzeichnis aufgeführten Eigenzitate.


Methode der Repetition

Auf die Methode der Repetition wird nur im äußersten Notfall und auch dann nur vom Diskussionsleiter zurückgegriffen. Sie stellt die ultima ratio der Dialogologie dar.

Die Methode der Repetition ist mühsam und undankbar, sie erfordert unglücklicherweise Sachkenntnis und angespannte Aufmerksamkeit während des Vortrages. Ihre Anwendung ist jedoch unumgänglich, wenn die Ausführungen eines eigens eingeladenen, hochgestellten Gastes ohne Echo bleiben. Der Gastgeber muß sich dann damit behelfen, den Inhalt des Referats mehr oder weniger langatmig und mehr oder weniger zutreffend zu wiederholen, um so den Zuhörern Gelegenheit zu geben, in der Zwischenzeit Diskussionsfragen vorzubereiten. Bleibt die Diskussion auch dann noch aus, so ist mit irreparablen Persönlichkeitsschäden durchaus zu rechnen. Solche Peinlichkeiten lassen sich bei dem anschließenden Empfang zu Ehren des Gastes durch ein exquisites kaltes Büfett nebst äquivalenten Getränken in etwa verwischen.


Präparative Methode

Die vorgenannte, absolut protokollwidrige Situation, daß die Diskussion mangels Sachverstandes und Interesse entfällt, ist von vornherein zu vermeiden, wenn nach der präparativen Methode verfahren wird.

Nach Bekanntwerden des Vortragsthemas werden kluge Diskussionsbemerkungen mit Akribie und Sorgfalt von langer Hand ausgearbeitet. Das dazu notwendige Schrifttum kann nicht früh genug beschafft werden, weil die Gefahr besteht, daß eine wahrer Run auf die einschlägige Literatur einsetzt. Es empfiehlt sich auch, prophylaktisch Dias anfertigen zu lassen, nach dem Motto: Bilder machen sich immer gut, Bilder beleben.

Von allen bekannten Methoden ist die präparative Methode, zumindest in der soeben erwähnten Form, die bei weitem arbeits-, nicht jedoch lohnintensivste. Hier wird Genie durch Fleiß ersetzt, was dem heutigen Lebensstil nicht mehr entspricht.

Wesentlich rationeller ist eine unter guten Bekannten gelegentlich geübte Abart der präparativen Methode: In Erwartung der gegenseitigen Meistbegünstigung, also nach dem Prinzip do ut des, überläßt der Redner seinem Freund, der den Vortrag besuchen will, das Manuskript mit einem detaillierten Verzeichnis von Diskussionsfragen und den entsprechenden Antworten. Obwohl alles minutiös vorbereitet ist, darf die spätere öffentliche Aufführung der Diskussion auf keinen Fall den Eindruck eines ballettartigen pas de deux machen. Sie muß vielmehr ungezwungen, natürlich und spontan wirken.


Methode der laudativen Akklamation

Über die Methode der laudativen Akklamation sind nur wenige Worte zu verlieren. Bei akademischen Festveranstaltungen verbietet die epochale Würde des Ereignisses mit dialektischer Schärfe geführte Diskussionen. An ihre Stelle treten dann glanzvolle und wortgewaltige Laudationen von epischer Breite, gefolgt von nicht minder barocken Responsorien, wobei sich Formen entwickeln, die dem höfischen Zeremoniell entlehnt scheinen. Bei bescheiden und selbstkritisch veranlagten Charakteren sollten jedoch Superlative äußerst sparsam verwendet werden, da sie leicht als Ironie aufgefaßt werden können und dann befremden.

Bei außergewöhnlichen Ehrungen ist die Methode der laudativen Akklamation durchaus passend; ist sie aber bei trivialen Anlässen zu hören, so kann unschwer vermutet werden, daß die lautstarken Lobreden aus dem Munde eines notorischen, ja berufsmäßigen Schmeichlers stammen. Die Methode der laudativen Akklamation im negativen Sinne ist heute kaum mehr anzutreffen, und zwar seltsamerweise als Folge der immens angewachsenen Motorisierung; denn wer ist heute noch Radfahrer.


Methode der „dummen“ Frage

Für Vortragende außerordentlich gefährlich ist die Methode der „dummen“ Frage. Sie ist daran erkennbar, daß der Diskussionsredner seine Bemerkung beginnt mit der Formulierung: „Gestatten Sie mir eine ganz dumme Frage.“ Diese Worte sind nicht so offen gemeint, wie sie klingen, und sollten den Referenten nicht vorzeitig frohlocken lassen, sondern im Gegenteil zu erhöhter Wachsamkeit und Vorsicht mahnen: Es bahnt sich Schlimmeres an. Der einleitende Satz „Gestatten Sie mir eine ganz dumme Frage“ ist nur als Präambel gedacht und wird meist gefolgt von einer Reihe höchst diffiziler Fragen, die der Referent kaum zu beantworten vermag. Der so bei den Zuhörern induzierte ungünstige Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß die Fragen ja ausdrücklich als simpel und harmlos deklariert waren.

Die Methode der „dummen“ Frage zielt also darauf ab, den Vortragenden mit einem Blattschuß aus dem Hinterhalt zu erledigen. Philanthropen werden diese Methode ablehnen, da sie den trotz des Triumphes unvermeidlichen herb-bitteren Nachgeschmack scheuen.


Methode der Deviation

Die Methode der Deviation hat den Konversationsstil zum Vorbild, der auf Cocktailparties gepflegt wird: Schneidet bei einer solchen Gelegenheit Ihr Gesprächspartner oder besser Ihre Gesprächspartnerin beispielsweise das Thema Moderne Kunst an, wovon Sie als Kristallograph nichts verstehen, so wird es Ihnen bei einigem Geschick nicht schwerfallen, von der modernen Kunst sukzessiv zur Kristallographie überzuwechseln. Die Brücke von dem einen zum anderen Gebiet würde der Kubismus bilden.

Ihr Deviationsmonolog müßte etwa folgendermaßen lauten: „Sehen Sie, Gnädigste, von der modernen Kunst halte ich wenig. Nehmen Sie nur den Kubismus. Was sind doch Picasso oder Braque für ausdrucksarme Gesellen! Ihre Welt besteht einzig aus Würfeln, aus lächerlichen, orthogonalen, isometrischen Parallelepipeden. Wo bleibt da das Spannungsfeld von Holoedrie, Hemiedrie und Tetartoedrie! Ein Hexaedrist hat natürlich nie den Formenrausch von Bisphenoiden, Skalenoedern, Trapezoedern, Dodekaedern und anderen Edern erlebt; ihm geht das Pyramidale wie das Bipyramidale völlig ab. Gnädigste sollten die Mannigfaltigkeit des Symmetriegefühls genießen, wie sie uns durch die Raumgruppen dargeboten wird.“

Bei einem so oder ähnlich geführten Überleitungsgespräch ist der gesellschaftliche Erfolg gesichert. Man wird Sie als einen charmanten und geistsprühenden Unterhalter schätzen, der auf allen Gebieten zu Hause ist. Wenn Sie neben der Methode der Deviation noch die Kunst des Bridgespiels beherrschen, sollten Sie die diplomatische Laufbahn einschlagen.

Für Examina, die als Diskussionen sui generis gelten dürfen, kann die Methode der Deviation eine wertvolle Hilfe bedeuten. In diesem Zusammenhang sei an die bekannte Geschichte einer Physikumsprüfung, Fach Zoologie, erinnert: Der Professor prüft nahezu ausschließlich über Würmer, was die Kandidaten wegen der Fülle des Stoffes und aus einem angeborenen Sinn für das Wesentliche dazu veranlaßt, sich auch nur mit diesen munteren Tierchen zu beschäftigen. Als nun der Professor an einem Tag bereits zehn Kandidaten nach gewohnter Modalität examiniert hatte, und ihm demzufolge die Würmer langsam zum Halse herausmarschierten, befragte er den elften Kandidaten über den Elephanten. Die Antwort war: „Ein Elephant ist ein Säugetier mit einem langen, wurmartigen Rüssel. Die Würmer teilt man in folgende Klassen ein.“ Mittels dieser Deviation konnte bekanntes Terrain erreicht und die Prüfung zu einem befriedigenden Abschluß gebracht werden.

Bei wissenschaftlichen Aussprachen ist die Methode der Deviation so anzuwenden, daß man zunächst die Ausführung des Vortragenden als höchst interessant begrüßt, dann eine kurze Verbindung zwischen dem Gesagten und dem, was man selbst sagen will, anklingen läßt, um sich schließlich langatmig über seine eigenen Arbeiten, die nichts mit dem Thema gemein haben, zu verbreitern. Nur recht selten wird es vorkommen, daß ein rabiater Diskussionsleiter das Wort entzieht, weil die Bemerkungen deviativ, d. h. abwegig, sind.


Methode der Ex-cathedra-Entscheidung

Schwere Verstöße gegen die herrschende Lehrmeinung werden durch die Methode der Ex-cathedra-Entscheidung geahndet. Sie bleibt definitionsgemäß Kathederbesitzern, also Lehrstuhlinhabern, vorbehalten.

Wagt jemand in einem Vortrag neuartige, von der bisherigen Auffassung stark abweichende Gedanken zu entwickeln, die dazu noch in sträflicher Weise den Thesen einer anwesenden Kapazität zuwiderlaufen, so muß er damit rechnen, in der Diskussion scharf angegriffen zu werden. Sind die vorgebrachten Argumente unwiderlegbar, so wird der Koryphäe die normative Kraft seiner Autorität spielen lassen und die neue Ansicht mit einigen axiomatischen Äußerungen abtun.

Es sind dann Sätze zu hören wie: „Junger Freund! Was Sie uns da entwickelt haben, hört sich ja ganz passabel an, kann aber nicht stimmen. Wie Sie wissen, bin ich nach langjähriger Forschung zu völlig anderen Ergebnissen gekommen, an denen ich unbedingt festhalten muß. Sie sollten das Problem nochmals in Ruhe nachrechnen. Da müssen Fehler drinstecken!“ Die Bereitschaft, die stringente Beweisführung hic et nunc zu wiederholen, wird regelmäßig aus angeblichem Zeitmangel abgelehnt: „Nein, nein, lassen Sie das. Da haben wir doch jetzt keine Zeit für. Bei Ihrer Intelligenz werden Sie den Fehler schon alleine finden!“

Während obiges Beispiel noch einen Rest väterlichen Wohlwollens erkennen läßt, zeugt die folgende Formulierung von unüberbietbarer Überheblichkeit und Intoleranz: „Alles, was zu dem angeschnittenen Thema zu sagen ist, habe ich bereits in meinem Lehrbuch auf den Seiten 457-498 ausgeführt.“ Die Diskussion ist damit erledigt: Roma locuta, causa finita. Eine Wiederaufnahme der Debatte ist nicht möglich, da die höchste Instanz entschieden hat.


Methode des gezielten Mißverständnisses

Als letzte Methode sei die des gezielten Mißverständnisses genannt. Sie ist anspruchslos und dennoch sehr wirkungsvoll. Ihr Anwendungsbereich ist schlechthin universell, sowohl hinsichtlich des Themas als auch hinsichtlich der Person. Die Konzeption der Methode des gezielten Mißverständnisses ist denkbar einfach: Ein Faktum des Vortrages wird herausgegriffen und seine Inversion als Diskussionsfrage formuliert. Diese Definition mag vielleicht zu abstrakt erscheinen und soll daher durch ein typisches Beispiel aus der Praxis illustriert werden:

War in einem Vortrag erwähnt worden, daß eine Substanz eine blaue Farbe besitzt, so wird mit Sicherheit jemand bei der Diskussion erklären: „Wenn ich den Herrn Redner richtig verstanden habe, soll die von ihm beschriebene Verbindung grau sein. Das kann aber nach allem, was man über derartige Dinge weiß, nicht richtig sein. Ich glaube vielmehr, daß unsere bisherigen theoretischen Ansätze die Behauptung rechtfertigen, daß die Farbe eindeutig als blau, allenfalls als blaugrau anzusehen ist. Es ist mir unverständlich, wie man die Blaufärbung übersehen konnte.“ Der Vortragende wird erwidern: „Ich möchte den Herrn Diskussionsredner auf ein Mißverständnis aufmerksam machen. Ich habe in meinem Vortrag ausdrücklich von blauer Farbe gesprochen. Zum anderen bin ich freudig überrascht, daß auch die Theorie blau oder blaugrau verlangt. Und wenn ich meine Befunde kritisch rekapituliere, muß ich sogar sagen, daß in Übereinstimmung mit den Ansichten des Herrn Diskussionsredners ein gewisser Graustich unverkennbar war.“

Wie die kleine Geschichte gezeigt hat, ist die Methode des gezielten Mißverständnisses frei von verletzender Schärfe. Sie ist eine fürbaß ideale Methode, da sie alle beteiligten Parteien befriedigt, den Diskussionsredner, den Vortragenden und die Zuhörer.


Literaturhinweise

Die Literaturhinweise [1], [2] und [3] stammen ursprünglich von Bert Schöneich.

[1] Arthur Schopenhauer,
„Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht zu behalten.“
Kein & Aber AG Zürich, 2006
[2] Karl Otto Erdmann,
„Die Kunst, Recht zu behalten. Methoden und Kunstgriffe des Streitens.“
Ullstein Verlag, 1982
[3] Hubert Schleichert,
„Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken.“
C.H. Beck, 2005
[4] Wolf Ruede-Wissmann,
„Bullfighting: Die härteste Kampf-Rhetorik - So besiegen Sie Ihre Feinde.“
Signum, 2007
[5] Gloria Beck,
„Verbotene Rhetorik. Die Kunst der skrupellosen Manipulation.“
Piper, 2007
[6] Karsten Bredemeier,
„Schwarze Rhetorik. Macht und Magie der Sprache.“
Goldmann, 2005