Das Schneckenproblem
                             ▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀▀

      Vom Anfang eines 1 m langen (beliebig dehnbaren) Gummibandes
      bewege sich eine punktförmig gedachte Schnecke tagsüber 1 cm
      vorwärts, nachts werde das Gummiband um 1 m weiter gedehnt, tags
      bewege sich die Schnecke wieder um 1 cm weiter, nachts werde das
      Gummiband wieder um einen weiteren Meter gedehnt, usw.

      Frage:  Falls die Schnecke überhaupt das Ende des Gummibandes
      erreichen kann, wie viele Schritte (Tage) benötigt sie dann
      mindestens?

                                    Lösung
                                    ▀▀▀▀▀▀

      Sei L1 die Länge des Gummibandes am ersten Tag (also 1 m), die
      Schnecke lege am ersten Tag die Strecke S1 (also 1 cm) zurück. Da
      jede Nacht das Gummiband um die Anfangslänge L1 gedehnt wird, ist
      die Länge des Gummibandes am N-ten Tag gleich

          LN = N∙L1  .                                               (1)

      Die Schnecke befindet sich am Ende des zweiten Tages an der Stelle
      S2 (vom Anfang des Bandes der Länge L2 gemessen):

          S2 = S1∙L2/L1 + S1 = S1∙(L2/L1 + L2/L2)  ,                 (2)

      das ist also die durch Dehnung vergrößerte Strecke S1 plus das
      zusätzlich am Tag von der Schnecke gekrochene Stück. Am Ende des
      dritten Tages gilt:

          S3 = S2∙L3/L2 + S1 = S1∙(L3/L1 + L3/L2 + L3/L3)  .         (3)

      Nach N Tagen befindet sich die Schnecke bei

                      N   1            N   1        LN  N  1
          SN = S1∙LN∙ Σ  ──── = S1∙LN∙ Σ  ──── = S1∙──∙ Σ  ─  ,      (4)
                     i=1  Li          i=1 i∙L1      L1 i=1 i

      was leicht durch vollständige Induktion bewiesen werden kann, den
      (einfachen) Beweis möge der Leser selbst durchführen.

      Falls die Schnecke überhaupt das Ende des Gummibandes jemals
      erreicht, dann muß gelten:

          LN ≤ SN   ,

                  LN  N  1
          LN ≤ S1∙──∙ Σ  ─   ,  bzw.:
                  L1 i=1 i

                           ┌────────────┐
                           │ L1    N  1 │
                           │ ── ≤  Σ  ─ │                            (5)
                           │ S1   i=1 i │
                           └────────────┘   .

      Die Summe in Gleichung (5) ist für N --> ∞ divergent, d. h., es
      muß ein minimales N geben, so daß die Summe größer gleich L1/S1
      ist.  Die Schnecke erreicht jedenfalls das Ende des Gummibandes!

      Da keine algebraische Formel für die Summe bekannt ist, versuchen
      wir wenigstens die Größenordnung von N abzuschätzen. Betrachten
      wir die 'Treppenfunktion' t(x), x reell:

                  ┌
                  │     1
          t(x) := │ ────────── für  x ≥ 0                            (6)
                  │ floor(x+1)
                  └

                    mit floor(x) := größte ganze Zahl ≤ x .

                          i
                     1    ⌠
      Offenbar gilt  ─  = │ t(x)∙dx , und daher können wir die Summe
                     i    ⌡
                         i-1

      auch durch folgendes Integral ausdrücken:

                   N            N
           N  1    ⌠            ⌠    dx
           Σ  ─ =  │ t(x)∙dx =  │ ──────────  .                      (7)
          i=1 i    ⌡            ⌡ floor(x+1)
                   0            0

      Da ferner gilt:

          1           1
          ─ ≥ t(x) ≥ ───  für alle x > 0 ,                           (8)
          x          x+1

      folgt:

              N      N                   N       N+1
              ⌠ dx   ⌠            N  1   ⌠ dx     ⌠ dx
          1 + │ ── ≥ │ t(x)∙dx =  Σ  ─ > │ ─── =  │ ──   .           (9)
              ⌡  x   ⌡           i=1 i   ⌡ x+1    ⌡  x
              1      0                   0        1

      Die Integrale lassen sich durch die Logarithmusfunktion
      ausdrücken:

                       N  1
          1 + ln(N) ≥  Σ  ─ > ln(N+1)  oder
                      i=1 i

                     N  1
          ln(e∙N) ≥  Σ  ─ > ln(N+1)  .                              (10)
                    i=1 i

      Da man für beliebige Werte L1/S1 nicht die Gleichheit in (5)
      erfüllen kann, führen wir eine Differenzfunktion ⌂(N) ein, so daß:

          L1    N  1
          ── =  Σ  ─ - ⌂(N)   mit 0 ≤ ⌂(N), ⌂(N) minimal.           (11)
          S1   i=1 i

      Es gilt für ⌂(N) zudem:

                     1
          0 ≤ ⌂(N) < ─   .                                          (12)
                     N

      In Gleichung (10) kann deshalb die Summe nach (11) ersetzt werden:

                     N  1   L1
          ln(e∙N) ≥  Σ  ─ = ── + ⌂(N) > ln(N+1)  ,
                    i=1 i   S1

                           L1
          ln(e∙N) - ⌂(N) ≥ ── > ln(N+1) - ⌂(N)   .                  (13)
                           S1

      Nach Anwenden der e-Funktion lautet die Gleichung:

               -⌂(N)    L1/S1          -⌂(N)
          e∙N∙e      ≥ e      > (N+1)∙e       .                     (14)

      Mittels der linken Seite von (14) bestimmen wir ein N so, daß
      e∙N∙exp(-⌂(N)) möglichst klein, aber größer oder gleich exp(L1/S1)
      ist, und mittels der rechten Seite von (14) bestimmen wir ein N
      so, daß (N+1)∙exp(-⌂(N)) möglichst groß, aber kleiner als
      exp(L1/S1) ist. Beachtet man, daß für N ≥ 2 gilt:

               -1/N
          e∙N∙e     > (N+1)  für  N ≥ 2   ,                         (15)

      so liegen wir bei der Abschätzung für N auf der sicheren Seite,
      wenn wir in (14) auf der linken Seite ⌂(N) = 1/N und auf der
      rechten Seite ⌂(N) = 0 (nach (12)) setzen:

               -1/N    L1/S1
          e∙N∙e     ≥ e      > (N+1)  für  N ≥ 2   ,                (16)

      und da

                     -1/N
          N∙e > e∙N∙e      folgt schließlich:

                 L1/S1
          N∙e > e      > (N+1)  für  N ≥ 2   .                      (17)

      Für L1/S1 = 100 entsprechend dem anfangs gestellten Schnecken-
      problem erhalten wir ein minimales und maximales N, Nmin und Nmax:

                  99
          Nmin > e     und                                          (18)

                  100
          Nmax < e       .                                          (19)

      Als Abschätzung nehmen wir:

              ┌──────────────────────────────┐
              │ Nmin = exp(99)  ≈ 9.89∙10^42 │
              │                              │
              │ Nmax = exp(100) ≈ 2.69∙10^43 │
              └──────────────────────────────┘

      Die Schnecke erreicht das Ende des Gummibandes also frühestens
      nach 1.93∙10^30 und spätestens nach 5.26∙10^30 Weltaltern(!)
      (Weltalter mit 1.4∙10^10 Jahren angenommen).