NZZ Nr. 15, 2015-01-21, S 54


Die verheerende Entdeckung der Schweigsamkeit


«Charlie Hebdo» und die stille Preisgabe der Medienfreiheit


Der Anschlag auf «Charlie Hebdo» stellt die westliche Welt an einen Scheideweg: Bestimmen wir in Zukunft über den Inhalt unserer Grundfreiheiten, oder tun das andere?

Milosz Matuschek


Die weltweite Solidarität mit «Charlie Hebdo» war überwältigend und wichtig. «Ich bin Charlie» wurde zum kollektiven Aufschrei der freien Welt. Die Botschaft lautet: «Wenn ihr Charlie angreift, greift ihr mich an.» Was wird davon bleiben, wenn sich der Staub legt? Werden die Kontinentalplatten unserer Freiheitsordnung sich verschoben haben? Leider haben sie es längst getan.

Auf der einen Seite stehen die mutigen Publikationen, die kein Jota von den westlichen Errungenschaften der Pressefreiheit abweichen, dafür aber in letzter Konsequenz den Kopf hinhalten. Dann gibt es den grossen Rest, für den Freiheit zuvörderst das Recht zu schweigen zu sein scheint. Zeitschriften wie «Charlie Hebdo» sind die «Bad Bank» der westlichen Wertegemeinschaft. Bei Charlie und Co. lagern die toxischen Papiere, die niemand haben will.

Die Charlie-Sympathie ist zu einem nicht unerheblichen Teil eine blosse Freiheitsfolklore. Ein Maskenball der Aufgeklärten. Der Rauch der Anschläge hatte sich kaum verzogen, da erklärten die ersten deutschsprachigen Satiremagazine bereits, auf den Abdruck von Mohammed-Karikaturen verzichten zu wollen. Amerikanische und britische Zeitungen winkten ebenfalls ab und weigerten sich sogar, das jüngste Titelblatt von «Charlie Hebdo» zu drucken.

Das wohlgemerkt in Ländern, in welchen die Meinungsfreiheit als kulturelles Symbol gilt und Freiheit gleichsam als das «Recht einer Seele zu atmen». Die türkische Zeitung «Cumhuriyet» hingegen traute sich. Unsere Freiheit wird in der Türkei verteidigt, aber nicht mehr in New York oder London? Verkehrte Welt.

Wer auf eine Karikatur verzichtet, bloss weil sie eine Provokation sein könnte, Blasphemie gar, übernimmt bereits die Denkstruktur und das Wertegebilde derjenigen, die sich im Recht glauben, wenn sie darauf mit Kalaschnikows und rollenden Köpfen antworten. Man ist auf die Errungenschaft der Satire entweder nicht stolz oder sich der eigenen Rechte nicht bewusst und empfindet schon das eigentlich Selbstverständliche als Affront. Wenn wir selbst nicht wissen, wofür wir warum stehen sollten, haben längst andere darüber entschieden, wofür wir zu stehen haben.

Sicherlich: Kein Medium ist dazu gezwungen, nun alltäglich die Grenzen unserer Rechtsordnung auszureizen. Die notorische Unterbietung des eigenen Standards hingegen wird ebendiesen einschrumpfen lassen. Nicht sofort, aber schleichend. Bis vielleicht irgendwann ein anderer Standard akzeptiert ist. Die neuen Zensoren sitzen dann nicht mehr in kirchlichen oder weltlichen Palästen, wie im Mittelalter. Sondern in Zeltstädten in Jemen. Die westliche Gesellschaft lässt sich gerade peu `a peu den Teppich ihrer Freiheitsordnung unter den Füssen wegziehen. Und anstatt zusammenzustehen, fragt so mancher, ob man noch beim Einrollen behilflich sein darf. «Charlie» wolle man aber natürlich trotzdem sein.

Selbstzensur und vorauseilender Gehorsam sind ein Pseudosicherheitsnetz. Heute sind es die Mohammed-Karikaturen. Morgen sind es kritische Berichte über den Islamismus. Wer Anschläge verüben will, findet immer einen Grund. Grundrechte sind jedoch keine Schönwettergewächse. Ihre wahre Existenz zeigt sich erst, wenn der Sturm aufzieht. «Charlie Hebdo» hat sich dagegen entschieden, eine solche externe Inhaltskontrolle zu akzeptieren. Die Redaktion druckt auch auf dem Titelblatt der neuesten Ausgabe eine Mohammed-Karikatur. Wer sich fragt, ob das klug sei, hat nicht verstanden, worum es geht: Wenn es jetzt nicht geschehen würde, wäre es auf sehr lange Zeit das letzte Mal in der westlichen Zeitungslandschaft gewesen, dass dies passiert. Wer schweigt, stimmt dem neuen Standard zu. Und all das geschieht jetzt, in diesen Stunden und Tagen!

Derzeit heisst es zu Recht, es werde in Zukunft darum gehen, die friedliche Mehrheit der Muslime auf unsere Seite zu ziehen und nicht den Extremisten in die Hände zu treiben. Ja, viele davon werden Mohammed-Karikaturen als unerhört oder empörend empfinden. Aber unsere Freiheit, anders zu denken, ist auch ihre Freiheit, anders zu denken. Unsere Freiheit, so unangenehm sie manchem sein mag, schützt auch die gemässigten Muslime davor, von ihren extremistischen Glaubensbrüdern mit der Waffe zwangsbekehrt zu werden, wie es derzeit tausendfach passiert. Das macht uns zu Verbündeten.

Milosz Matuschek ist Publizist und Jurist. Er unterrichtet an der Pariser Sorbonne und schreibt regelmässig für die NZZ.