Was ist Mathematik?


[Richard Courant, aus der Einleitung von „Was ist Mathematik?“ (2010; englisches Original 1941).]


Die Mathematik ist tief im menschlichen Denken verankert. Betrachtender Verstand, unternehmender Wille, ästhetisches Gefühl finden in ihr den reinsten Ausdruck. Sie vereint Logik und Anschauung, Analyse und Konstruktion, Individualität der Erscheinungen und Abstraktion der Formen. Wenn auch Mode oder Traditionen einen oder anderen Gesichtspunkt betonen mögen, so beruht doch auf dem Zusammenspiel dieser Antithesen und dem Streben nach Synthese die Vitalität und der letzte Wert der mathematischen Wissenschaft.

Zweifellos ist die Entwicklung der Mathematik in all ihren Zweigen ursprünglich von praktischen Bedürfnissen und von Beobachtungen realer Dinge angeregt worden, selbst wenn dieser Zusammenhang im Unterricht und in der spezialisierten Forschung vergessen wird. Aber einmal begonnen unter dem Druck notwendiger Anwendungen, gewinnt eine mathematische Entwicklung ihren eigenen Schwung, der meistens weit über die Grenzen unmittelbarer Nützlichkeit hinausführt. Dieser Übergang von der angewandten zur theoretischen Wissenschaft zeigt sich in der antiken Entwicklung ebenso wie in vielen Beiträgen von Ingenieuren und Physikern zur modernen Mathematik.

Die Geschichte der Mathematik beginnt im Orient, wo um 2000 v. Chr. die Babylonier ein reiches Material sammelten, das wir heute in die elementare Algebra einordnen würden. Jedoch als Wissenschaft im modernen Sinne tritt die Mathematik erst später auf griechischem Boden im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. hervor. Kontakte zwischen dem Orient und Griechenland, die zur Zeit des persischen Reiches begannen und in der Zeit nach Alexander einen Höhepunkt erreichten, machten die Griechen mehr und mehr mit den Leistungen der babylonischen Mathematik und Astronomie vertraut. Bald wurde die Mathematik Gegenstand der philosophischen Diskussionen in den intellektuellen Kreisen der griechischen Stadtstaaten. Griechische Denker erkannten die großen Schwierigkeiten in den Begriffen der Stetigkeit, der Bewegung, des Unendlichen und in dem Problem der Messung beliebiger Größen mittels gegebener Einheiten. Diese Schwierigkeiten wurden in bewundernswerter Weise gelöst. Das Ergebnis war Eudoxus’ Theorie des geometrischen Kontinuums, eine Leistung, die erst mehr als 2000 Jahre später in der modernen Theorie der Irrationalzahlen ihresgleichen fand. Die deduktiv-axiomatische Richtung in der Mathematik entstand zur Zeit des Eudoxus und kristallisierte sich später in Euklids „Elementen“.

Wenn auch die theoretische und axiomatische Einstellung der griechischen Mathematik eines ihrer wichtigsten Kennzeichen bleibt und bis heute einen ungeheuren Einfluß ausgeübt hat, so kann doch nicht stark genug betont werden, daß die Anwendungen und der Kontakt mit der physikalischen Wirklichkeit in der antiken Mathematik durchaus eine ebenso wichtige Rolle spielten und daß auch in der Antike häufig eine weniger strenge Darstellung als die euklidische vorgezogen wurde.

Die frühe Einsicht in die Schwierigkeiten, die mit „inkommensurablen“ Größen zusammenhängen, mag die Griechen davon abgeschreckt haben, die Kunst des Zahlenrechnens weiterzuführen, obwohl sie im Orient schon weit entwickelt war. Statt dessen bahnten sich die Griechen den Weg durch das Gestrüpp der reinen axiomatischen Geometrie. So begann einer der merkwürdigen Umwege der Wissenschaftsgeschichte, und vielleicht wurde eine große Gelegenheit verpaßt. Das hohe Ansehen der geometrischen Tradition der Griechen verzögerte fast 2000 Jahre lang die unvermeidliche Weiterentwicklung des Zahlbegriffs und der algebraischen Methoden, welche heute die Grundlage der Wissenschaft bilden.

Nach einer langen Periode der Stagnation und langsamen Vorbereitung begann im 17. Jahrhundert eine Revolution in den mathematischen Wissenschaften mit der analytischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung. In einer wahren Orgie der Produktivität eroberten die Pioniere der neuen Mathematik eine faszinierende Welt mathematischer Reichtümer. Die grichische Geometrie spielte weiter eine wichtige Rolle; aber das griechische Ideal der axiomatischen Kristallisation und strengen systematischen Deduktion verblaßte im 17. und 18. Jahrhundert. Logisch zwingende Beweise, scharfe Definitionen, klare Axiome erschienen den Pionieren der neuen Mathematik unwesentlich. Intuitives Gefühl für Zusammenhänge und eine fast blinde Überzeugung von der übermenschlichen Kraft der neu erfundenen formalen Methoden, mit einer Beimischung von beinahe mystischem Vertrauen in das logisch nicht faßbare „unendlich Kleine“ gaben den Anstoß zu neuen Eroberungen. Jedoch allmählich wurde die Ekstase des Fortschritts durch einen neu erwachenden Sinn der Selbstkritik abgelöst. Im 19. Jahrhundert wurde das lange verdrängte Bedürfnis nach Sicherung der Ergebnisse und nach Klarheit unabweisbar, als sich nach der französischen Revolution die Basis des wissenschaftlichen Lebens ungeheuer verbreiterte und die Beherrschung der neuen Methoden nicht einer kleinen Elite von Gelehrten mit sicherem mathematischen Instinkt vorbehalten bleiben konnte. Man wurde also gezwungen, die Grundlagen der neuen Mathematik zu revidieren und zu klären; insbesondere war es nötig, die Differential- und Integralrechnung und ihren Grenzbegriff einem viel größerem Kreise von Lernenden zugänglich zu machen. So wurde das 19. Jahrhundert nicht nur eine Periode neuer Fortschritte, sondern es war zugleich gekennzeichnet durch die erfolgreiche Besinnung auf das klassische Ideal der Präzision und der strengen Beweise. In dieser Hinsicht übertraf es sogar das Vorbild der griechischen Wissenschaft.

Mit der Zeit schlug das Pendel nach der Seite der reinen Logik und Abstraktion aus, und zwar so weit, daß eine gefährliche Trennung der „reinen“ Mathematik von lebenswichtigen Anwendungsgebieten entstand. Vielleicht war eine solche Entfremdung zwischen den Mathematikern und anderen Wissenschaftlern in den Zeiten kritischer Revision unvermeidlich. Aber es scheint, und es ist jedenfalls zu hoffen, daß diese Periode der Isolation beendet ist. Die wiedergewonnene innere Stärke und die ungeheure Vereinfachung, die durch das tiefere Verständnis erreicht wurden, machen es heute möglich, die mathematische Theorie zu beherrschen, ohne die Anwendungen zu vernachlässigen. Eine neue organische Einheit von reiner und angewandter Wissenschaft und einen Ausgleich zwischen abstrakter Allgemeinheit und den farbigen, konkreten Erscheinungen zu schaffen, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe für die nächste Zukunft.

Eine philosophische Definition der Mathematik ist hier nicht angebracht. Nur auf einige Punkte soll hingewiesen werden. Die Betonung des deduktiv-axiomatischen Charakters der Mathematik birgt eine große Gefahr. Allerdings entzieht sich das Element der konstruktiven Erfindung, der schöpferischen Intuition einer einfachen philosophischen Formulierung; dennoch bleibt es der Kern jeder mathematischen Leistung, selbst auf den abstraktesten Gebieten. Wenn die kristallisierte, deduktive Form das letzte Ziel ist, so sind Intuition und Konstruktion die treibenden Kräfte. Der Lebensnerv der mathematischen Wissenschaft ist bedroht durch die Behauptung, Mathematik sei nichts anderes als ein System von Schlüssen aus Definitionen und Annahmen, die zwar in sich widerspruchsfrei sein müssen, sonst aber von der Willkür des Mathematikers geschaffen werden. Wäre das wahr, dann würde die Mathematik keinen intelligenten Menschen anziehen. Sie wäre eine Spielerei mit Definitionen, Regeln und Syllogismen ohne Ziel und Sinn. Die Vorstellung, daß der Verstand sinnvolle Systeme von Postulaten frei erschaffen könnte, ist eine trügerische Halbwahrheit. Nur aus der Verantwortung gegen das organische Ganze, nur aus innerer Notwendigkeit heraus kann der freie Geist Ergebnisse von wissenschaftlichem Wert hervorbringen.

Trotz der Gefahr der einseitigen Übertreibung hat die Axiomatik zu einem tieferen Verständnis der mathematischen Tatsachen und und ihrer Zusammenhänge und zu einer klareren Einsicht in das Wesen mathematischer Begriffe geführt. Hieraus hat sich eine Auffassung entwickelt, welche über die Mathematik hinaus für moderne Wissenschaft typisch ist.

Welchen philosophischen Standpunkt wir auch immer einnehmen mögen, für die wissenschaftliche Beobachtung erschöpft sich ein Gegenstand in der Gesamtheit seiner möglichen Beziehungen zum beobachtenden Subjekt oder Instrument. Freilich, bloße Beobachtung stellt noch keine Erkenntnis oder Einsicht dar; sie muß eingeordnet und gedeutet werden durch Beziehung auf ein zugrundeliegendes Etwas, ein „Ding an sich“, das selbst nicht Gegenstand direkter Beobachtung sein kann, sondern zur Metaphysik gehört. Aber für die wissenschaftliche Methode ist es wichtig, alle metaphysischen Elemente auszuschalten und die beobachtbaren Tatsachen als die einzige Quelle aller Vorstellungen und Konstruktionen zu betrachten. Dieser Verzicht auf das Ziel, das „Ding an sich“ zu verstehen, die „letzte Wahrheit“ zu erkennen, das innerste Wesen der Welt zu entschleiern, mag für naive Enthusiasten bitter sein; aber gerade er hat sich als einer der fruchtbarsten Wendungen im modernen Denken erwiesen.

Entscheidende Erfolge in der Physik verdanken wir dem Festhalten an dem Prinzip der Ausschaltung des Metaphysischen. Einstein reduzierte die Idee der Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten auf beobachtbare Erscheinungen; so wurde der naive Glaube an einen absoluten Sinn dieser Vorstellung als metaphysisches Vorurteil erkannt und der Schlüssel zur Relativitätstheorie gefunden. Niels Bohr und seine Schüler gingen der Tatsache auf den Grund, daß jede physikalische Beobachtung von einer Einwirkung des beobachtenden Instruments auf das beobachtete Objekt begleitet sein muß; so wurde z. B. klar, das die gleichzeitige scharfe Bestimmung von Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens physikalisch unmöglich ist. Die weitreichenden Konsequenzen dieser Entdeckung sind heute jedem Wissenschaftler geläufig. Im 19. Jahrhundert herrschte die Auffassung, daß mechanische Kräfte und Bewegungen der Teilchen im Raum etwas „Wirkliches“ wären. Das Phänomen der Wärme wurde befriedigend auf dieser Basis verstanden, und man setzte sich das Ziel, auch Elektrizität, Licht und Magnetismus auf mechanische Erscheinungen zurückzuführen und so zu „erklären“. Zu diesem Zweck wurde der „Äther“ als ein hypothetisches Medium erfunden, welcher zu noch nicht ganz erklärbaren, mechanischen Bewegungen fähig sein sollte. Langsam erkannte man, daß der Äther unbeobachtbar ist und zur Metaphysik gehört, nicht aber zur Physik. Mit Erleichterung und zugleich Enttäuschung wurde schließlich die mechanische Erklärungen des Lichts und der Elektrizität und mit ihnen der Äther aufgegeben.

Eine ähnliche Lage, vielleicht noch stärker ausgeprägt, bestand in der Mathematik. Durch die Jahrhunderte hatten die Mathematiker ihre Objekte, z. B. Zahlen, Punkte usw., als „Dinge an sich“ betrachtet. Da diese Objekte aber den Versuchen, sie angemessen zu definieren, von jeher getrotzt haben, dämmerte es den Mathematikern des 19. Jahrhunderts allmählich, daß die Frage nach der Bedeutung dieser Objekte als „wirkliche Dinge“ für die Mathematik keinen Sinn hat – wenn sie überhaupt einen hat. Die einzigen sinnvollen Aussagen über sie beziehen sich nicht auf die dingliche Realität; sie betreffen nur die gegenseitigen Beziehungen zwischen undefinierten Objekten und die Regeln, die die Operationen mit ihnen beherrschen. Was Punkte, Linien, Zahlen „wirklich“ sind, kann und braucht in der mathematischen Wissenschaft nicht erörtert zu werden. Worauf es ankommt und was „nachprüfbaren“ Tatsachen entspricht, ist Struktur und Beziehung, etwa, daß zwei Punkte eine Gerade bestimmen, daß aus Zahlen nach gewissen Regeln andere Zahlen gebildet werden, usw. Eine klare Einsicht in die Notwendigkeit, die elementaren mathematischen Begriffe ihrer Dinglichkeit zu entkleiden, ist eine der fruchtbarsten Ergebnisse der modernen Entwicklung der Axiomatik.

Glücklicherweise vergessen schöpferische Menschen ihre dogmatischen Vorurteile, sobald diese die konstruktive Leistung behindern. In jedem Fall, für Gelehrte und Laien gleichermaßen, kann nicht Philosophie, sondern nur das Studium der mathematischen Substanz die Antwort auf die Frage geben: Was ist Mathematik?


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